Brandenburg

„Ich gehe davon aus, dass wir es gemeinsam schaffen, ein langfristiges Neben– und Miteinander von Mensch und Wolf zu ermöglichen, wenn alle in diesem Prozess Beteiligten nach einer tragfähigen Lösung suchen.“ (Matthias Platzeck)


Morgen fahren wir nach Brandenburg. Ich musste gerade ein trauriges Lied auf meiner kleinen roten Gitarre spielen. Ich glaub, ich krieg schon Heimweh. Denn für wen ist Brandenburg überhaupt interessant? Vielleicht für Flughafenbauer, Wehrsportler, Wolfsmenschen? Mag sein. Doch was wollen normale Leute wie wir in diesem entlegenen Bundesland? Ich bin jedenfalls zwiespältig gespannt…
Die Anreise verläuft ziemlich problematisch, denn der vorausfahrende Reiseleiter hat den absurden Ehrgeiz, uns jedes Städtchen, Dörfchen und sonstiges Kacknest der Altmark persönlich zu zeigen. Dazu kommen ein paar Umleitungen, die man auf geradem Wege gar nicht angefahren hätte. Und auch nach dem wir die brandenburgische Landesgrenze endlich überschritten haben, setzt sich die Schnitzeljagd durch die Einöde fort. Wir überwinden Trampelpfade, auf denen Kühe ins Straucheln geraten würden, passieren Gartenzäune, an denen alte Frauen seit Kriegsende auf die Rückkehr ihrer Ehemänner warten und benötigen für die überschaubare Entfernung mehr Zeit als die Kanzlerin beim Truppenbesuch am Hindukusch. Ich wähne uns längst im wilden Polen, als wir in den angepeilten Landkreis einfahren und nachdem wir entnervt das Ziel erreichen, können nur dank meiner sagenhaften Kontinenz alle Wechselschlüpfer in den Schrank eingeräumt werden. Aber es ist verständlicherweise knapp…
Das gebuchte Hafendorf Rheinsberg erweist sich als schick und mondän, die Reihenhäuschen sind wirklich hübsch und liegen alle direkt am Gewässer. Der Rasen ist kurz, die Wege gepflegt, der Himmel blau wie bei Rosamunde Pilcher. Gleich gegenüber steht ein passendes Maritim-Hotel – das hat man auch nicht überall. Die anderen Gäste parken ihre fetten Karren vorm Haus und die Motorboote dahinter oder umgekehrt. Wir sind natürlich deutlich bescheidener und mieten uns stattdessen ein Kanu für vier Personen. Das ist schlanker im Auftritt und wahrhaft sportlicher, als die schwimmenden Benzinvaporisatoren der neuen Nachbarn. Aber wenn man nun einmal einen eigenen Bootssteg besitzt, muss man ja auch irgendwas daran festknoten. Sonst ist das Quatsch.
Abends sitzen wir romantisch auf der Terrasse, betrachten die leise schaukelnden Boote und schnatternden Enten, genießen eine kleine Hopfenschorle und diskutieren die politischen Entwicklungen der letzten Zeit. Denn das tun wir schließlich seit zwanzig Jahren. Mal abgesehen von den Schiffchen versteht sich. Auf der Motorjacht nebenan treffen sich derweil die Besserverdienenden, quetschen sich aufs lederne Oberdeck und schlürfen im blauen Schummerlicht eine Flasche Schampus. Rumfahren können sie mit dem Kahn unter diesen Umständen nicht, sonst plempert die teure Plörre noch auf Bügelfalten und Instrumente. Welch ein famoser Spaß. Eigentlich können sie einem leidtun.
Tagsüber machen wir mittelgroße Paddeltouren mit den Frauen und Kindern, durchkreuzen die Seenlandschaft, wippern durch Kanäle, kämpfen mit Wellen und manischen Maschinenbooten. An Land besuchen wir die nahe gelegene Residenzstadt oder baden im omnipräsenten See. Und gerade beim planschen ergeben sich interessante Konstellationen. So stelle ich mit den Kindern die großen Seeschlachten der Geschichte nach, wie die Schlacht von Salamis 480 v.Chr., die von Tsushima 1905 und natürlich Waterloo, die berühmte Wasserschlacht mit Napoleon als geschlagenem Kapitän. Wir schießen uns mit Wasserpistolen die Augen aus, spülen uns gegenseitig den Dreck aus den Ohren oder versenken den Gegner komplett und rückstandsfrei im trüben Nass. Das fetzt total.
Erfreulicherweise haben wir meistens Nudelwetter, was den Kindern sehr entgegen kommt. Doch bereits am zweiten Urlaubstag erkranke ich an einem heftigen Sonnenstich, kämpfe stundenlang gegen Schweißausbrüche und Übelkeit und phantasiere von einer Endokarditis, die ich wahrscheinlich nicht überleben werde. Eine schlimme Zeit. Am nächsten Morgen geht es mir zwar besser, aber ein kleiner Rest Todesangst schwebt noch einige Stunden über mir. Nach dem Frühstück kann ich mich jedoch wieder am schönen Wetter erfreuen und trete mit festem Schritt aus dem Schatten heraus. Wenn das Wetter mal nicht so schön ist, regnet es kurz und heftig. Natürlich kann uns so etwas nicht aufhalten. Wir stellen uns geduldig irgendwo unter und trinken ein Mittagspils, um kurz darauf mit dem widerkehrenden Sonnenschein wie Phoenix aus der Asche in See zu stechen.
Ein weiterer Eckpfeiler meines Tagesablaufes ist der Mittagsschlaf, den ich bei jedem Landgang in Anspruch nehme. Er ist eine großartige Errungenschaft der Evolution und ein ständiger Begleiter vieler Wirbeltiere seit Millionen Jahren. Der Schlaf dient in meinem Fall jedoch nicht nur der Rekonvaleszenz, sondern auch der Konversation mit verheirateten Frauen aus meiner Umgebung, die ich mit den nötigen Informationen aus dem brandenburgischen versorge und von denen ich mich im Gegenzug über den Lauf der Geschichte in der fernen Heimat unterrichten lasse. Für den Gebrauch anderer Medien fehlen mir im Urlaub nämlich Lust und Zeit, ganz hinterm Mond möchte ich aber dennoch nicht versauern. Und da es sich in unserem Fall um rein platonische Erfahrungsaustäusche handelt, hegt meine Frau weder Neid noch Argwohn, nein, sie freut sich bescheiden, ausnahmsweise nicht selbst Opfer meiner spannenden Vorträge zu werden. Die Gute.
Mitten im Urlaub erhalten wir sogar Besuch von mehreren Freunden, die Einen auf dem Rückweg von der Ostsee, die Anderen auf einer Fahrradtour durch die halbe Republik. Es ist höchst erfreulich, in der Fremde auf Vertraute von zu Hause zu treffen und sich über das Leben auf Reisen austauschen zu können. Während wir wie die Maden im Speck auf der Sonnenseite der Krise flanieren, quälen sich unsere lieben Radtouristen durch Mitteldeutschland, nächtigen auf verwilderten Campingplätzen und begegnen Eingeborenen, die man unter normalen Umständen tunlichst gemieden hätte. So verschieden kann der Urlaub sein. Und ein bisschen beneide ich sie sogar um die Geschichten, die sie erzählen können.
Zwei Wochen währt die schöne Zeit, dann geht es wieder zurück. Wir haben alles besprochen, vieles ausprobiert und tatsächlich ein paar echte Wölfe gesehen. Nach den Erfahrungen der Anreise trennen wir uns vom Fahrzeug des Reiseleiters nach wenigen Kilometern, befahren die Autobahn trotz Stauwarnung und sind schnell wie Pfeil von rote Mann mit schwarze Haare heißt Winnetou zurück in unserem Wohngebiet. Das andere Auto braucht komischerweise etwas länger. (HO)