Wir sind nicht Deutschland, wir sind krank.

 

Bald werden die Tage kürzer, der Himmel grauer, die Luft kälter und das Wetter beschissener. Immer dann, wenn diese Jahreszeit beginnt, scheinen bei meinen Mitmenschen alle Reserven aufgebraucht und ihre armen geschundenen Körper nicht mehr in der Lage zu sein, dem Ansturm von Bazillen und Viren standzuhalten. Sie werden krank oder bilden es sich ein. Schwere Verläufe sind dabei gar nicht so selten und die Krankenstände in den besonders sensiblen Schaltstellen unserer Gesellschaft – das sind in erster Linie Büros – schnellen in die Höhe. Sie erreichen zeitweise bis zu 50 Prozent. Das allein kann als Spaßbremse gewertet werden, weil diejenigen, die mit ihren Reserven sparsam umgegangen oder weniger empfindlich sind nun stärker gefordert werden. Schön ist das nicht aber auch kein Drama. Denn wer denkt, es würde besser, wenn die angeschlagenen Kollegen zurück sind, der irrt gewaltig. Leider! Die Rückkehrer besprechen dann nämlich ihre Krankengeschichten und das ist selbst für hartgesottene Naturen eine unerträgliche Jammerei.
Normalerweise sind die Krankheitsverläufe, die sich aus den Gesprächen rekonstruieren lassen, alles andere als einfach und in jeder Hinsicht komplikationslastig. Ein klassischer Rückkehrerdialog hört sich häufig so an: „…so richtig Fieber hab ich eigentlich gar nicht gehabt, ich habe nur gefroren.“ Daraufhin der Gesprächspartner: „…mir war nur andauernd heiß und ich habe geschwitzt…“. „Meine Nase lief die ganze Zeit…“ dem dann entgegnet wird: „…mein Auswurf war zeitweise lila und meine Stimme klang wie die von Gunter Gabriel…“ Dann werden alle Körperöffnungen aufgezählt, in denen Fieber gemessen wurde. Wenig überraschend fand sich auch irgendein Loch, das jenseits der 37,5 Grad-Schallmauer temperiert war. Und wenn auch nur mit etwas Nachhilfe.
Mich erinnert das irgendwie an meinen letzten Kneipenbesuch. Denn zunächst war mir tatsächlich kalt und so richtig Fieber hatte ich auch nicht. Irgendwann wurde mir dann aber immer wärmer, ja fast heiß und dann habe ich erschreckender Weise auch noch geschwitzt. Ob ich mir dann noch irgendwelche Sachen irgendwo reingesteckt habe, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls habe ich am nächsten Morgen nichts gefunden, was irgendwo gestört hat.
Interessanter und sehr speziell sind Gespräche nach überstandenen Darmgrippen. Ich führe dann immer eine Strichliste, wie oft denn nun eine Toilette aufgesucht werden musste und vor allem wo. Ähnlich wie meine „sinngemäß-Strichliste“ mit der ich meine ersten statistischen Gehversuche unternahm und mit deren Ergebnis ich die Versuchsperson, meinen E-Technik-Lehrer, konfrontierte. Der war so überrascht, dass „sinngemäß“ fortan nicht mehr Bestandteil seines Wortschatzes war.
Leider lässt sich bei den Darmversagern unter meinen Kollegen und Mitmenschen kein so einheitliches Bild zeichnen. Die Zahl der Toilettengänge schwankt zu stark und die Orte werden mit fortschreitender Erzähldauer immer grotesker. Der Rekord lag wohl bei über 50 Besuchen. Ich gehe aber davon aus, dass dies ein Ergebnis gegenseitigen Hochschaukelns war, denn dem Gesprächspartner kam es nicht unten, sondern oben heraus, und da ist man bekannter Maßen flexibler und nicht an spezielle Orte gebunden. Lecker. Auch die geschilderten Details machen Appetit: da verändern sich Farbe, Konsistenz, Gerüche, Geräusche, Temperatur und die Reaktionen der Mitmenschen. Und ja, auch dabei darf gefroren, geschwitzt und gefiebert werden. Meine Erinnerungen an den letzten Kneipenbesuch lasse ich da mal außen vor – denn nicht ansatzweise kann ich da mithalten.
Auch wenn die meisten Erkältungen – mehr ist es in der Regel nicht – unbehandelt wie behandelt nach ca. 7 Tagen vorbei sind, werden die absurden Berichte noch mit sehr unterschiedlichen Therapieerfahrungen verziert. Die altbewährten Klassiker wie heißer Tee mit Honig, warmer Zwiebelsaft, eine getragene Socke um den Hals und bei Magen-Darm-Verstimmungen Wermut-Tee, sind heute nicht mehr hip. Man trinkt ja auch keine Cola mehr, sondern Club Mate. Damit Dinge richtig wirken, müssen sie also exotisch sein, auf Heizungen lau angewärmt werden, längere Zeit aufquellen, zerdrückt werden, teelöffelweise verabreicht und in jedem Fall zimmerwarm gelagert werden. Am besten wird der schleimige Sud bei einer aktuellen Erkältung schon für das nächste Mal angesetzt. Das hat dann zwar eine ähnliche hygienische Potenz wie zehn Tage lauwarm gelagertes Hackfleisch. Im Unterschied dazu hat die Pampe aber eine unglaubliche Lifestylekomponente. Ich weiß gerade nicht, welche dieser Alternativen ich bevorzugen würde.
Die meisten der so erkrankten und therapierten werden wieder gesund. Niemals gesund werden allerdings diejenigen, deren Häuser oder Hotels vibrieren, die an täglich wechselnden Stellen unsichtbare weiße Flecken an sich bemerken, die ein sonores Brummen hören, die nichts essen und zunehmen oder Warzen im Darm haben, die an Kotz-Schluck-Anfällen leiden und deren Bäuche Landkarten ganz unterschiedlicher, noch unentdeckter Krankheiten sind. Die sind richtig arm dran und das ist dann mit einem gewöhnlichen Kneipenbesuch nicht mehr vergleichbar und schon gar nicht zu beheben.
Was hilft also neben Therapie? Richtig: Prävention und Vorbeugen! Zauberworte der modernen Medizin- und Gesundheitswissenschaften. Natürlich gehören so streitbare Dinge wie Bewegung, gesunde Ernährung, Wechselduschen, Impfen und was weiß ich noch alles dazu. Helfen könnte aber auch folgendes bei folgender Situation: Heute Abend will ich einen Trinken gehen. Ich lege im Vorfeld fest, wie viel ich trinke – sagen wir fünf Bier und vier Pernot – wahrscheinlich pur, eventuell noch einen mit Eiswasser. Das ergibt einen veritablen Vollrausch und einen ordentlichen Kater am nächsten Morgen, der mit Kaffee und Zitrone oder Bismarck-Hering mühsam bekämpft werden müsste. Hier kann bereits im Vorfeld präventiv gegengesteuert werden, denn Zitronenkaffee riecht nach Kotze und hilft nur, weil man danach auch tatsächlich kotzt. Bismarck-Hering und Kopfschmerzen vertragen sich auch nicht mit ähnlicher Wirkung, wie Zitronenkaffee. Der Profi braucht auch keine Hausmittelchen wie Salzkram (Elektrolyte!) oder so, nein! Denn er bevorzugt die Einnahme eines nicht ganz unbedenklichen Mixes aus zentral wirkenden Anti-Kotzmitteln (MCP) und Schmerztabletten, hier am besten Paracetamol oder Analgin. Der so versorgte kann bedenkenlos saufen und ist am nächsten Tag garantiert fit oder er liegt mit blutenden Magengeschwüren auf der Intensivstation, hängt mit einem Nierenversagen an der Dialyse, steht gelb angelaufen auf der Leber-Empfängerliste von Eurotransplant, sitzt wegen Stimmenhörens in der geschlossenen Psychiatrie, wurde eingesperrt oder er ist tot. (Don Locko)