Trägheitsgesetz

„Ja, ich habe heute nichts gemacht. Ja, meine Arbeit ist vollbracht.“ (Tocotronic)


Als jugendlicher Arbeitsmuffel konnte ich mich der allgegenwärtigen Trägheit mit ganzer Kraft widmen. In einem überschaubaren Zeitraum verweigerte ich nämlich jegliches Interesse an geregelter Beschäftigung.
Ich wohnte noch bei Mutti, grüßte kleinlaut, wenn diese sich morgens zur Arbeit verabschiedete und legte mich anschließend ganz geschmeidig auf das einladende Sofa. In der Flimmerkiste dudelte irgendein sinnloser Stuss und ich wartete währenddessen geduldig auf das erste Hungergefühl. Stellte sich dieses ein, begab ich mich in die Küche, um eine delikate Tiefkühlpizza zuzubereiten, die ich spätestens gegen zehn Uhr verspeiste. Schließlich wollte ich den täglichen Stress in Grenzen und pünktlich meinen verdienten Mittagsschlaf halten. Dann genoss ich endgültig die Untätigkeit.
Ich lag also ganz friedlich da, bewegte mich kaum und schlummerte so vor mich hin. Hatte ich ein wenig geschwitzt, so drehte ich meine Decke um. Klingelte jemand an der Tür, was sehr selten vorkam, hechelte ich die Anspannung ins Kissen. Zur Tür ging ich nicht. Manchmal erwachte ich kurzzeitig, um über die asozialen Spinner in den Talkshows im Privatfernsehen den Kopf zu schütteln oder zur Keramikabteilung zu gehen. Ansonsten passierte nichts.
Zum frühen Nachmittag ließ mein Dämmerzustand ein wenig nach, denn bei der Rückkehr meiner Mutter wollte ich wenigstens den Anschein eines aufstrebenden Mitbürgers zu Stande bringen. Ich lüftete kurz durch, stellte den Müll etwas näher in Richtung Wohnungstür und das gebrauchte Geschirr in die Spüle. Ich sah in den Spiegel, um meine Bekleidung und Behaarung zu richten. Zuletzt stapelte ich die Fernsehzeitungen ordentlich auf dem Couchtisch.
Die Aufträge meiner Versorgerin hatte ich meistens erfolgreich ignoriert. Weder war ich beim Schuhmacher, noch beim Hutmacher oder Gemischtwarenhändler gewesen und schon gar nicht bei meinem Arbeitsvermittler. Stattdessen hatte ich das bisschen Zeit damit verbracht, mir die bestmöglichen Ausreden auszudenken. Schlechtes Wetter, schlechtes Schuhwerk, keine Zeit. Und das ging eine ganze Weile recht gut.
Bis Mutti irgendwann fragte, wie es denn nun weiter gehen sollte. Ich müsse mich endlich um eine Anstellung bemühen oder mir auf anderem Wege Geld von der Wohlfahrt besorgen. Meine mangelnde Fahrtauglichkeit hatte mich bisher vor einer Vermittlung durch das Arbeitsamt bewahrt. Zwar verfügte ich über eine Reihe beruflicher Qualifikationen, aber notorische Fußgänger konnte zu der Zeit zum Glück niemand gebrauchen.
Inzwischen nannte ich eine unsanierte Wohnung mein eigen, ließ mich aber täglich bei Mutti verköstigen, nutzte ihre sanitären Einrichtungen und die Fernwärme oder lud meine dreckige Wäsche ab. Lediglich die Abende verbrachte ich lieber im Kreise der Kulturfreunde. Wobei mein finanzieller Spielraum stetig schrumpfte und gastronomische Ausflüge damit immer frustrierender wurden. Manchmal musste ich sogar zwischen Speisen und Getränken wählen, beides wäre nicht drin gewesen. Oder ich musste mich von eigenartigen Leuten, die auf meine Begleitung in entsprechende Lokalitäten auf gar keinen Fall verzichten wollten, die halbe Nacht aushalten lassen. Eine harte Zeit war das.
Nach mehrmaliger Ermahnung mütterlicherseits verschlug es mich deshalb irgendwann zur örtlichen Wohngeldstelle, welche mich jedoch postwendend zum Sozialamt weiter verwies. Und dort wurde mir, eines Morgens um sieben, endlich die Tragweite meiner Lethargie bewusst. Von hier aus wollte ich mir meine trockenen Brötchen nicht finanzieren lassen. Dafür war die schöne Bildung wohl doch zu schade. Dann lieber arbeiten gehen. Scheiße. Also irgendetwas musste jetzt dringend passieren. Irgendjemand sollte sich endlich kümmern. So schien es. Und dank meiner plötzlichen Bemühungen geriet ich auch ohne amtliche Vermittlung alsbald in ein verbrieftes Beschäftigungsverhältnis.
Seit gefühlten tausend Jahren gehe ich inzwischen einer geregelten Arbeit nach, bin stets pünktlich und zuvorkommend und träume trotzdem oder gerade deshalb immer wieder von Frührente und Kündigung oder drohe sogar verhalten mit meinem baldigen Suizid. Alles ganz normal. Immer wieder sage ich mir – „Es ist doch nur wegen des schönen Geldes, ich kann gar nichts dafür, ich habe das eigentlich nicht gewollt. Früher war alles besser!“ Anhaltende Fröhlichkeit ist offensichtlich nicht das Ziel täglicher Arbeit. Ich hab es ja geahnt. Dabei möchte ich nur etwas Ruhe haben. Zeit für mich allein. Das ist doch nun wirklich nicht zu viel verlangt.
Sicherlich, es gibt auch Menschen, die zwanghaft rund um die Uhr schaffen und raffen müssen, bis Frauen und Kinder sie nach viel Geschrei wegen permanenter Vernachlässigung verlassen haben. Die mit übertriebenem Ehrgeiz an die Arbeit gehen und gespannt auf die Ergebnisse ihres Tagwerkes hin wirtschaften. Die, zum Leidwesen ihrer Umwelt, stets Neues ausprobieren und Althergebrachtes in Frage stellen. Manische Aktionisten, nervige Besserwisser und Workaholics. Ein echtes Problem in einer überforderten Gesellschaft. Aber normal ist das nicht. Denn das Ende eines Achtstundentages ist absolut vorhersehbar. Man ist immer fix und fertig, hat ungesund gegessen, zu wenig getrunken und geschlafen. Nach Feierabend ist der Tag auch nicht mehr zu retten. Man endet schlussendlich völlig erschöpft auf genau der Couch, von der man niemals hätte aufstehen sollen. (HO)