Inzucht, Sodomie und Kannibalismus

„Nie geboren zu sein, welcher Wunsch steht höher?“ (Ödipus)

Mit den doofen Fischen konnte man so einiges erleben. Denn bei uns zu Hause herrschten inzwischen nahezu katastrophale Zustände. Ein erschreckender Sittenverfall hatte seit geraumer Zeit die elementarsten Grundsätze zivilisierten Zusammenlebens über den Haufen geworfen. Widernatürliche und unmenschliche Vorgänge vollzogen sich. Hoffentlich erfährt niemand davon…
Die Fischfluktuation in unserem Aquarium hatte sich nämlich inzwischen stabilisiert. Die Regenbogendinger waren vor Monaten komplett ausgestorben. Die Zebrabärblinge waren auch nur noch zu zweit – letztens ist einer regelrecht geplatzt, unten rum am Bauch fehlte morgens ein großes Stück Fisch – komisch war das schon.
Um unsere Schneckenplage in den Griff zu bekommen, hatten wir eine Prachtschmerle erworben, die sich Anfangs sehr wohl fühlte. Die Schnecken wurden gefressen oder flüchteten sich vor ihr über die Wasserkante, wo sie austrockneten. Leider verstarb die Schmerle plötzlich und unerwartet nach einigen Wochen. Eine zweite Vertreterin hielt sich nur vier Tage. Auf die dritte hatten wir deshalb von unserer Fischverkäuferin sogar Garantie bekommen. Gerettet hat es sie nicht. Und nach der vierten, die ebenfalls schnell verschied, gaben wir diese Spezies endgültig auf. Lieber ein paar niedliche Schnecken, als gar kein Viehzeug, dachten wir.
Natürlich nahmen wir die hohe Sterblichkeit in unserem Gewässer nicht auf die leichte Schulter. Wir hatten das Wasser testen lassen (alles gut), wechselten es nach Vorschrift alle zwei Wochen, wir bewarfen die Fische planmäßig mit Futter und wenn einer von ihnen einen fiesen Pickel hatte, kippte die beste Aquarianerin von allen heilsame Medikamente ins Wasser, worauf immer erst ein gesunder Fisch verstarb und anschließend der erkrankte. Wir hatten sogar mit einigen Fischflüsterern gesprochen und keine plausible Erklärung für unser Problem gefunden. Es handelte sich wahrscheinlich weiterhin um einen natürlichen Prozess, ein lokal begrenztes evolutionäres Auswahlverfahren mit entsprechendem Schwund. Den meisten Kollegen ging es ja ganz gut bei uns. Es gab sogar noch einige Vertreter des Erstbezuges. Und sowohl die Wasserpflanzen als auch die Schnecken gediehen prächtig.
Denn das fürchterlichste in unserer Kolonie war ohnehin nicht die regelmäßig schwindende Gesamtbevölkerung sondern die perverse Entartung zweier Individuen der Gattung Platy. Diese gottlosen Ferkel! Zu Anfang hatten wir vier Weibchen und ein Männchen kultiviert. Dank günstiger Rahmenbedingungen vermehrten sie sich nach kurzer Zeit. Mehrfach kotzte das eine dicke Weibchen winzige Kinder aus. Die Nachkommen überlebten jedoch in aller Regel nicht lange. Sie wurden sicher von ihren Eltern und den anderen Fischen gefressen, eine im Tierreich übliche Praxis. Nur ein einziger Sohn überlebte auf Dauer den Genozid.
Vor Monaten ging schließlich auch der Kindsvater in die ewigen Fischgründe ein und folgte den seligen Verwandten. Es verblieben einzig das dicke Weibchen (Mutti) und ein kleineres Männchen (ihr Sohn). Dieser Nachkomme hatte jedoch bald nichts Besseres zu tun, als dem lieben Muttchen sein Gonopodium (den Fischpimmel) anzutragen. Irgendwann bevölkerten kleine gelbe Punkte mit großen Augen den geschützten Bereich um die Wurzel herum. Doch auch diese Generation war nach kurzer Zeit (wahrscheinlich aus ethischen Gründen) komplett verschwunden. Den schuppigen Familienvater betrübte dies jedoch kaum, denn nach kurzer Zeit ödipussierte er seine Mutter wieder an. Einfach ekelhaft.
Nun mochten diese Ereignisse aus zoologischer Sicht nicht weiter ungewöhnlich sein, ich als bekennender Humanist war jedoch erschüttert. In einem geordneten Haushalt konnte man solche entarteten Zustände schwerlich dulden. Ich sprach mit meiner Familie. Wir konsultierten Fischverkäufer, Zierfischzüchter und Wikipedia. Alle wollten uns beschwichtigen. Dies sei ganz normal, hieß es. Aber nein! Das hatte die Demokratie nicht verdient. Dafür waren wir nicht auf die Straße gegangen. Wie wollten wir unter diesen Umständen der Welt die Freiheit bringen, das Recht verkünden, für Menschen, Frauen und Tiere einstehen? Unmöglich schien das!
Zuerst gedachten wir, uns an Brüssel oder Den Haag zu wenden, verwarfen diese Idee jedoch, nachdem uns Gerüchte über die trägen Mühlen der europäischen Verwaltung erreicht hatten. So lange konnten wir nicht warten. Wir änderten also sofort unsere Zuchtpraktiken, indem wir nur noch Fische einsetzten, die sich nicht bei uns zu paaren versuchen bzw. keine Nachkommen damit zustande bringen würden. Denn was blieb uns übrig? Wir verzichteten auf die bunten Punkte mit den großen, traurigen Augen – Geschöpfe der Verdammnis, Ausgeburten der Hölle. Sollten sie doch von herzlosen, geldgierigen Profizüchtern erschaffen werden. Wir brachten dies nicht mehr übers Herz. Bei uns würden zukünftig nur noch platonische oder impotente Schuppenträger herumfischen. Ist eindeutig besser so. (HO)