Jugendkriminalität

„Brich das Gesetz, brich das Gesetz!“ (Dyse)


Ich wurde bisher nur einmal in meinem Leben verhaftet. Das können sicher nicht alle Staatsbürger von sich behaupten, denn mindestens zwei Drittel von ihnen wurde bestimmt noch niemals festgesetzt, die andere Hälfte hingegen viel öfter. Oder so.
Es trug sich zu an einem ersten Mai, dem Kampftag der Arbeiterklasse, in der DDR ein absoluter Höhepunkt im Reigen der Feiertage. Ich war damals erst zehn Jahre alt und damit fast am Scheideweg zwischen einem aufrechten und klassenbewussten Sozialisten und der lethargischen Masse aus Mit- und Drumherum-Läufern angelangt. An der Seite zweier anderer frühpubertärer Störenfriede befand ich mich im steten Ringen mit den Möglichkeiten und dem Müßiggang und geriet auf diesem Wege in ungewohnte Situationen.
Wir hatten die obligatorische Maidemonstration der heimatlichen Ortschaft längst hinter uns gelassen und suchten nachmittags nach Beschäftigung außerhalb des staatlichen Okkultismus. Aufrührerische Zielsetzungen konnte man uns kaum vorwerfen, eher handelte es sich um eine Mischung aus Langeweile und Blödheit, die uns auf kleinkriminelle Abwege leitete.
Mitten in unserem Wohngebiet befand sich zu der Zeit eine weitläufige Baustelle, auf der ein Paradebeispiel spätsozialistischer Baukunst entstand, ein Mahnmal des Platten- und Wohnungsbaus. Am Rande des architektonischen Areals lugte ein kleiner Schuppen aus dem Dreck, der sich mit juvenilem Forscherdrang leicht öffnen ließ. Ich stand in geringem Abstand Schmiere, denn die Beobachtung und Einschätzung hochkomplexer Zusammenhänge sollte auf meinem späteren Lebensweg noch manche Rolle spielen. Die Kameraden jedoch kamen nach kurzer Zeit mit drei gelben Bauhelmen aus dem hölzernen Gebäude, welche wenig später unsere Köpfe schmückten. So angetan setzten wir unseren Weg durch die proletarisch aufgetakelte Innenstadt fort. Der Tag war schließlich noch jung.
Angestachelt von der erfolgreichen Devotionalienjagd suchten wir nach weiteren Herausforderungen für unseren ziellosen Aktionismus. Ein Gefühl von Freiheit und Abenteuer hatte mit den Sicherheitsmützen von uns Besitz ergriffen. An der Terrasse eines stadtbekannten Gastronomiebetriebes fiel uns nach geringfügiger Manipulation mit meinem ziemlich großen Messer ein Stück festes Seil und eine rote Arbeiterfahne in die Hände, die unseren Aufmarsch komplettierten. Besser konnte man den Siegeszug des Sozialismus wahrlich nicht ausstaffieren. Drei Bekloppte mit tuntigen Helmen, die eine ausgeblichene Fahne schwenken. Solch einen Festumzug kriegen in Ostdeutschland heutzutage nur noch Behinderten- kampfsportvereine auf die Beine gestellt.
Nun lenkten wir unsere Schritte in Richtung des Stadtparks, in dem sich der Freizeitüberschuss des werktätigen Volkes planmäßig zum finalen Vergnügen steigern sollte. Wären wir ein wenig älter und zudem etwas umsichtiger gewesen, hätten uns unweigerlich die vielen Schutzmänner ins Auge fallen müssen, welche allerorts die Umgebung beobachteten. Doch als unerfahrenen Gelegenheits- tätern blieb unserer albernen Truppe das damit verbundene Risiko natürlich verborgen. Wir liefen querfeldein über eine frühlingshafte Wiese und der nächsten Bereitschaftspolizeistreife direkt in die Arme. Wir sahen zweifellos verdächtig aus, denn wir trugen das Diebesgut ja direkt auf dem Schädel spazieren. In der DDR konnte man bekanntlich vieles nicht im Laden kaufen und Bauarbeiterhelme gehörten dazu. Somit hätten wir kaum die rechtmäßigen Eigentümer der Kopfbedeckungen sein können. Die Volkspolizisten jedenfalls freuten sich über den hübschen Fang, den sie mit uns gemacht hatten.
Wir durften in einem Armeezelt platznehmen und uns einer ersten Vernehmung stellen. Mein Messer erntete dabei anerkennende Blicke und zog ernsthafte Fragen nach sich. Man deportierte uns jedoch nach kurzer Zeit weiter ins Polizeipräsidium. In einem grünen Robur der Landstreitkräfte reisten wir unbequem und mit klopfenden Herzen in die ausgebreiteten Arme des Gesetzes. Denn eine kleine Kinderseele kann unter derartigem Stress ohne weiteres in Wallung geraten, schließlich waren wir keine Berufskriminellen, sondern im Grunde immer noch blasse Pioniere, die nur etwas Altpapier zur SERO-Annahmestelle bringen wollten und dabei ein Stückchen vom Weg abgekommen waren.
In dem schmalen Gang der Polizeizentrale mussten wir dann mit dem Gesicht zur Wand stramm stehen und wurden einzeln zur Aufnahme des Protokolls geführt. Die dabei erpressten Aussagen waren sicherlich Beleg unserer unbekümmerten Täterschaft und nötigten den Milizionären allenfalls ein müdes Lächeln ab. Jedoch durften wir anschließend nicht einfach nach Hause gehen, ein kurzes Stück die Straße hoch und um zwei bis drei Ecken, nein, wir wurden ganz offiziell in einen Streifenwagen gesetzt, um unseren erschrockenen Erziehungs- berechtigten höchstpersönlich aus der festen Hand der staatlichen Organe übergeben zu werden. Ich glaubte zu diesem Zeitpunkt noch an eine milde Reaktion meiner Mutter, denn ich hatte ja eigentlich fast nichts gemacht. Als der Beamte mich jedoch mit der Frage nach der Herkunft des Messers übergab und dabei einen sehr ernsthaften und wohl auch etwas bedauernden Blick an den Tag legte, muss ihr ein derartiger Schreck in die Glieder gefahren sein, das sie bis zur vorgezogenen Nachtruhe nicht mehr mit mir sprechen sollte. Dabei war es höchstens später Nachmittag. Meine Mittäter ernteten derweil weit weniger Konsequenzen durch ihre Eltern, wie ich später erfuhr.
In der darauffolgenden Woche fragte mich meine stellvertretende Schuldirektorin im Sportunterricht mit verhaltenem Grinsen, ob ich an der bewussten Aktion wirklich beteiligt gewesen wäre. Die Geschichte hatte sich demnach herum gesprochen. Doch sie hielt mich offensichtlich trotzdem für einen redlichen zukünftigen Mitbürger. Und sie sollte damit absolut Recht behalten. Das sieht man ja. (HO)