Schnitz mir einen Drink

Geboren in einem kleinen Dorf in einfachen Verhältnissen, als Sohn eines Tagelöhners und einer Haushalthilfe, waren die Voraussetzungen für eine hoffnungsvolle Karriere nicht die Besten. Nach dem Besuch der Volksschule und sommerlichen Beschäftigungen als Ziegenhirte bekam er von einem gutherzigen Onkel mütterlicherseits ein kleines Messer geschenkt, mit dem er nachmittags auf der Wiese bei den Ziegen erste Schnitzversuche unternahm. Seine Schulbildung war kläglich, seine Tage lang. Bar jeder Anleitung nutzte er sein Talent und wurde zu einem begabten und kunstfertigen Burschen.
Um eine ordentliche Ausbildung zu erhalten, verschlug es ihn nach dem großen Weltkrieg in die nächste Kreisstadt, wo er bei einem erfahrenen Meister seine Fähigkeiten vervollkommnen sollte. Bereits nach kurzer Lehrzeit durfte er sich an den Arbeiten an einem Holzaltar mit figürlichen Darstellungen von Maria und Joseph und den zwölf Aposteln beteiligen. Seine Christusfigur versetzte sowohl den Meister als auch dessen Gesellen in Erstaunen und brachte ihm viel Anerkennung ein. Allein die Dornenkrone auf dem Haupt des Heilands war ein einmaliges Meisterwerk.
Anfangs arbeitete er jahrelang in einer angesehenen Holzbeinmanufaktur. Doch mit der Friedens- und Ostpolitik unter Willi Brandt kamen liebevoll gearbeitete Naturholzersatzbeine aus der Mode. So gehörten nur noch Liebhaber zu seinen treuen Kunden. Sie ließen sich alte Kolonial- und Kriegsszenen in die kunstvoll gearbeiteten Gliedmaßen schnitzen und zeigten diese stolz auf ihren jährlichen Veteranentreffen. Nach der allgemeinen Kriegsflaute nützte ihm sein guter Ruf jedoch recht wenig. Denn selbst die stetig steigende Zahl von Straßenverkehrsopfern konnte diese Lücke nicht füllen. Diese wurden nämlich fast komplett von der Prothesenmafia versorgt und staksten lieber auf ausdruckslosen Kunststoffbeinen durch die Gegend, als echte Handwerkskunst unter der Hose zu tragen.
Er geriet zunehmend in Vergessenheit und übte sein Handwerk nur noch im stillen Kämmerlein aus. Dort entwarf und fertigte er Figuren und Installationen mit geschichtlichen Hintergründen. So Szenen aus dem Alten Testament, der Erschließung Sibiriens, dem Burenkrieg oder der Prohibition. Am eindrucksvollsten gerieten dabei seine Trink- und Zechkumpane aus allen Epochen der Menschheitsgeschichte. Etliche Exponate aus seinen kundigen Händen befinden sich heute in Säufermuseen rund um den Globus und erzielen auf Auktionen horrende Preise, von denen der Künstler zu Lebzeiten nicht zu träumen gewagt hätte.
Denn leider geriet er im Zuge seiner Tätigkeit und auch zu Studienzwecken von selbst an die Flasche und verlor dabei im Laufe der Zeit seine künstlerische Schaffens- und Ausdruckskraft. Seine liebevoll gestallten Figurengruppen und detailgetreuen Trinkgefäße wurden abgelöst von grob gearbeiteten Bierseideln und klobigen Schöpfkellen für den Hausgebrauch. Von derart minderwertiger Volkskunst ließ es natürlich kaum leben. So verlor er vollends die Kontrolle über sich und seine Arbeiten und verstarb aufgedunsen und fuselölig auf seiner letzten Schöpfung, einer nachlässig gearbeiteten Gartenbank aus Eichenholz. Ein verirrter Wanderer fand ihn ein paar Tage später und war sowohl über den Anblick als auch den Geruch wenig erfreut.
Zwei frühere Schüler seiner Kunst schnitzten dem Meister zum Gedenken ein Abbild aus besseren Tagen, einen kraftstrotzenden Handwerksburschen, welcher sein Heimatdorf nun an zentraler Stelle schmückt, wie der Roland die Märkte der freien Städte des Mittelalters. Besuchen sie ihn bei Gelegenheit und grüßen ihn herzlich von mir. (HO)