Margot Honnecker und die Fliegen

Nur selten sah man Margot Honecker abends mit ihrem Mann durch die Siedlung spazieren. Viel zu groß war die Gefahr, anderen Einwohnern von Wandlitz zu begegnen. So etwas war der Albtraum schlechthin. Die staatstragenden Reden, an die sie und alle Nachbarn gewohnt waren, hatten die Fähigkeit zu unverfänglichem Smalltalk verkümmern lassen. Weder über das Wetter, noch über den alljährlichen Titelgewinn des BFC Dynamo wollte sie mit jemandem reden. Sie wollte nur ihre Ruhe haben. Einfach schweigen. Möge ihr geifernder Gatte ruhig mal wieder seine Pornovideos nach Themenbereichen sortieren, sie blieb in ihrem Zimmer, schwieg und dachte nach.
Zurück im Wohnraum bemerkte sie den Geruch das erste Mal. So süß-säuerlich, muffig mit einem Hauch Bohnerwachs und einer großen Portion alten Mannes darin. Eigentlich roch es ja schon länger so. Es war ihr nur noch nie aufgefallen. Und die Ursache des Miefs war schnell ermittelt. Es gab nur einen Senioren im Haus. Ihren Mann. Den alten Erich. Das Urgestein des Proletariats, die letzte Krone der deutschen Arbeiterbewegung. Aber musste man das jetzt auch noch riechen können? Zudem, wo er gar nicht da war. Denn er befand sich auf Reisen, im Kaukasus oder irgendwo anders. Wer sollte sich das merken. Jedenfalls da unten, wo Ziegen zu den Familien gezählt wurden und sogar heiraten konnten. Und trotzdem roch man ihn. Das missfiel ihr doch sehr. Sie öffnete zielstrebig die Fenster und setzte sich auf die beige Sitzgruppe. Sie wartete. Die frische Frühlingsluft wehte ins Zimmer, ihr fröstelte und sie warf sich den roten Kaschmirschal um den Hals, ein Geschenk Leonid Breschnews anlässlich einer Begegnung in Bukarest. Doch das war lange her.
Der Gestank ließ nach und dennoch blieb Margot ungehalten. Da war der Gatte mal eine Weile aus dem Hause und dennoch hing sein Odem bleischwer in der Luft. Und nicht nur das. Woher und warum kamen all die Fliegen, die unablässig die Lampe umschwirrten? Das musste mit der chronisch abgestandenen Atmosphäre zusammenhängen. Da half nicht einmal Lüften. Der trübe Dunst drang sofort wieder aus Tapeten, Kissen, Auslegwaren. Den Insekten gefiel das durchaus. Nur hasste Margot die Fliegen aus tiefstem Herzen. Wie sie sich eben auf Speisen setzten und im nächsten Moment den Abort aufsuchten, um wenig später ungewaschen an die gedeckte Tafel zurückzukehren. Dazu das unstete Gewimmel. Das konnte sie nicht länger ertragen. Am liebsten hätte sie das Haus angezündet und für den Tod der Parasiten den Verlust von Heim und Herd in Kauf genommen. Wenn nur das Viehzeug dabei drauf gegangen wäre. Politisch sicherlich eine fragwürdige Entscheidung. Das musste man bei aller Dringlichkeit bedenken. Wenn die westlichen Geheimdienste von dem Feuer erfahren würden, könnte das die größten Verwicklungen geben. Brandstiftung im Hause Honecker. Moskau wäre sicher nicht erfreut.
Eilig verließ sie das verseuchte Zimmer. Sie brauchte dringend eine warme Dusche. Eine rituelle Säuberung. Das Ungeziefer und der Schmutz hatten sie tief verletzt. In ihren eigenen vier Wänden eine solche Verwahrlosung. Im Weißen Haus wäre ihr das nicht passiert. Gerade deshalb musste sie sich einen Schlachtplan erstellen. Der realexistierende Sozialismus konnte sich nicht von ein paar Kleinstlebewesen in die Knie zwingen lassen. Mit diesen kämpferischen Gedanken ging Margot zu Bett und konnte lange Zeit nicht einschlafen. Das Problem schwirrte unablässig in ihrem Kopf herum.
Am nächsten Morgen erwachte sie schweißgebadet und wenig erholt. Zuerst konnte sie sich nicht erinnern, welcher Umstand ihr solches Kopfzerbrechen bereitet hatte. Erst als sie die gute Stube betrat, fiel es ihr wie Schuppen aus den Haaren. Da kreisten sie wieder, diese elenden Plagegeister. Und der Gestank war ebenfalls wieder zugegen. Ein gellender Schrei ließ die Haushälterin in der Tür erscheinen und nach dem werten Befinden fragen. So cholerisch verstimmt hatte diese die Herrin in den vielen Jahren nur selten gesehen. Sollte es sich um einen neuerlichen Rüstungswettlauf handeln? Hatte sich der Staatslenker zu einer jungen armenischen Geliebten abgesetzt? Oder sogar einer Ziege sein klammes Herz geschenkt? Margot beendete diese Überlegungen mit deutlichen Worten, wies händeringend auf Mief und Fliegen und verließ eilig das Haus in unbekannter Richtung und zu ebensolchem Zwecke. Würde eine Staatsaffäre aus dem ganzen werden? Wie schief hing der Haussegen letztendlich? Würde sich noch jemand wundern?
Margot verbrachte einige Tage unter falschem Namen und falscher Frisur im besten Hotel der Hauptstadt der DDR und erwartete dort die Rückkehr ihres müffelnden Gatten. Doch war sie derweil nicht untätig. Ein Programm zur Körperhygiene an polytechnischen Schulen entstand in dieser Zeit. Ihre volksbildende Position verlangte danach. Außerdem orderte sie über dunkle Kanäle etliche laufende Meter besten Fliegengitters aus dem nichtsozialistischen Ausland. Dass sie den omnipräsenten Ausdünstungen des Staatsratsvorsitzenden allerdings nicht ohne weiteres Herr werden würde, wurde ihr alsbald klar. Alte Männer riechen nun einmal nach alten Männern. Wie sollte sie das ändern?
Sie empfing den dunstigen Partner direkt am Flughafen. Er sah relativ gesund aus, war leidlich gebräunt, ein wenig angetrunken, für seine Verhältnisse aber in guter Verfassung. Das Blumenbouquet des FDGB, welches ihm zum Empfang gereicht wurde, kaschierte angenehm die von ihm ausgehenden Botenstoffe des körperlichen Verfalles. Fürs erste musste sie ihn in ihr gemeinsames Eigenheim mitnehmen. Nachdem er geschlafen und gebadet hatte, eröffnete sie ihm die bestehende Problematik in ihrer ganzen Tragweite. Margot fand deutliche Worte, die selbst dem senilen Verstand des Staatenlenkers einleuchteten. Er legte sich bäuchlings aufs Sofa und schnüffelte an Möbeln und Kissen. Ja, der Geruch war unbestreitbar vorhanden. vertraut zwar, aber trotzdem unsportlich, altbacken und penetrant. Unter seinen Achseln, der Krawatte und auch nahe dem Hosenboden fanden sich ähnliche Ausdünstungen. Die treue Gefährtin hatte Recht. Schön war das nicht.
Beide beschlossen einen radikalen Wandel. Erich sollte einer Entschlackung unterzogen werden. Er reiste inkognito in einen tschechischen Kurort, wurde wochenlang gebadet, gesalbt, beduftet.  Er fastete, soweit sein Alter es zuließ. Und tatsächlich ließ sein Gestank nach und sogar  kam er wieder leidlich zu Kräften. Eine ungeahnte Vitalität weitete seine Lungen, stärkte seinen Gang und streckte die steifen Glieder. Und sogar sein klammer Geist regte sich wieder, wie in den Zeiten der jungen Republik, als Max noch Wasser brauchte und die brüderliche Sowjetunion Reparationen.
Margot hingegen überwachte währenddessen die Sanierung der Villa. Wände und Decken wurden erneuert, der Boden kunstvoll gefliest und die Fenster mit Fliegengitter versehen. Nichts sollte an die marode Vergangenheit erinnern. Nach der Rückkehr des lieben Staatsratsvorsitzenden entfaltete sich in Wandlitz ein stilles Glück. Die Nachbarn waren beeindruckt, wenn nicht sogar ein wenig neidisch auf den so plötzlich verjüngten Genossen. Man veranstaltete ein Sommerfest, eine Generalamnestie wurde erlassen, etliche Ausreiseanträge bewilligt. Margot hatte ihr Ziel erreicht. Vorläufig jedenfalls. (HO)