Esoterik und Krieg

…und die Bomber warfen ab, kein Kaffee, kein Ei, kein Toast und die Splitter kamen im Morgengrauen durchs Dach. (Alte Sau)


Unsere Welt wird von Tag zu Tag unübersichtlicher, die Informationen werden diffuser und soziophobischer. Wehmütig denkt man an die Zeit des guten alten kalten Krieges. Damals konnte man wenigstens ruhigen Gewissens vor die Tür gehen. Der Russe kam ja doch nicht. Oder er war schon lange da. Heute gibt es kein schwarz und weiß mehr, alles ist grau, changierend oder, im schlimmsten Falle, camouflage. Die Leute haben Angst vor Allem und Jedem, ob zu Recht oder zu Unrecht. Hauptsache Angst! Angst vor Krankheiten, Naturkatastrophen, Terroristen, Wölfen. Die Bedrohung lauert überall.
Beispielsweise wird die Liste heimtödlicher Krankheiten alle ein, zwei Jahre um ein neues Horrorszenario erweitert. Vogelgrippe, Schweinegrippe, EHEC, SARS, Ebola und wie sie alle heißen. Die Medien arbeiten sich eine Weile daran ab, einen Verstorbenen kannte eigentlich niemand so wirklich persönlich, doch für ein paar Brennpunkte reicht die Aufmerksamkeit allemal. Die Problematik vertreibt der Bevölkerung die Zeit zwischen zwei Darmspiegelungen, wärmt in kalten Wintermonaten oder weht als laues Lüftchen durch einen heißen Sommer. Als die Panik ihren Höhepunkt erreicht hat, spricht der Bischof von Bertingen ein wohlmeinendes Gebet. Und tatsächlich, sein Trost und Resistenzen beruhigen allmählich die Gemüter.
Sind alle Menschen halbwegs wiederhergestellt, schimmert ein furchterregender Tornado am Horizont oder in der Wetter-App. Wirbelstürme wirbeln durch Großstädte, in Berlin fliegen Sonnenschirme über den Alexanderplatz und bei Kleinmachnow fällt eine rostige Dachrinne in Oma Krauses Schweineeimer. Nach dem Tornado und dem Starkregen kommt von hinten das Hochwasser angeschwappt und spült den verbliebenen Hausrat durchs eingedrückte Fenster ins Meer. Rettungskräfte in Gummistiefeln und Wathosen schleppen alte Frauen durch überflutete Kleinstädte. Ministerpräsidenten und Kanzlerkandidaten statten Kondolenzbesuche ab und versprechen großzügige Finanzhilfen. Zum Schluss expandieren Mückenschwärme und treiben die Überlebenden in den Wahnsinn. Plagen derart biblischen Ausmaßes überfordern sogar den Bischof – er kratzt sich am Kinn und geht über Nacht in den Ruhestand.
Um das Chaos perfekt zu machen, ändert der Krieg gegen den Terrorismus seine Richtung und lässt sich in unseren Breitengraden blicken. Rechtschaffende Menschen werden unvermittelt auf offener Straße in Explosionen verwickelt, andere von Männern mit langen Bärten totgepiekt. Oma Krause knöpft besorgt ihre Kittelschürze ganz fest zu. Dass sie das noch erleben muss! Die Menschen sind alle verrückt geworden. Wölfe kreisen nachts ums Haus und heulen wie die bärtigen Bösewichter im Fernsehen.
Angeheizt wird die ganze Aufregung durch offizielle Verlautbarungen, wie beispielsweise die Aufforderung, Vorräte für eine Woche anzulegen oder eine amtliche Warnung vor leichtem Schneefall. Die Vorstellung, ohne ausreichend Proviant in einer leichten, knöchelhohen Schneewehe stecken zu bleiben, versetzt die Bevölkerung bis Mitte April in einen latenten Unruhezustand. Die empfohlene Lagerhaltung in der Häuslichkeit erfreut sicherlich den deutschen Einzelhandel, erinnert ältere Mitbürger jedoch an Kriegsvorbereitung, wie sie in unseren Breitengraden im letzten Jahrhundert ein gern gepflegter Brauch waren. Gut möglich, dass in absehbarer Zeit wieder Zivilschutz- und Wehrsportübungen durchgeführt werden. Bei Amazon dürfte hierzu bald ein passendes Überlebensset mit 3D-Gasmaske, Tarnslackline und Drohnenstörsender erhältlich sein. In Oma Krauses Kitteltasche wartet eine Dose Pfefferspray auf den ersten Angriff.
Nachmittags, wenn der folgsame Landsmann vom Hamsterkauf heimgekehrt ist, seine Ravioli- und Bierdosen im Keller verstaut und die Fenster verdunkelt hat, kann er sich im Bildungsfernsehen seine Existenzängste untermauern lassen. Nach fünf Folgen „Hitlers Hüften“, anderthalb Stunden „Die größten Katastrophen der Erdgeschichte“ und der „Zukunft ohne Menschen“ braucht es nur noch eine kurze Nachrichtensendung, um das Ende der Welt mit offenen Armen willkommen zu heißen. Hoffentlich reicht das Bier bis zum Exitus.
Weiteres Indiz für die zunehmende allgemeine Verunsicherung ist eine Rückbesinnung vieler Menschen auf ihre angestammte Mischpoke, welcher sie eigentlich seit der Pubertät und mit Hilfe eines kleinen Bekanntenkreises zu entkommen versuchten. Sie sehen sich vermehrt Kochsendungen im Fernsehen an, Sterneköche werden zu Popstars. Kochbücher verkaufen sich besser, als alle anderen Nachschlagewerke. Am Wochenende verwüsten die Fans ihre eigenen kleinen Küchen, um Angehörige und Freunde mit abgefahrenen Gerichten zu bewirten. Sie diskutieren bei 3-Gänge-Menüs Erfahrungsberichte von Topf- und Messersets und tauschen Salatdressingrezepte. Aber zum Glascontainer gehen sie nicht. Nö, keine Zeit.
Lieber abonnieren sie Dekorationszeitschriften und kleben nach Anleitung stundenlang Hausmüll zusammen, hängen sich das Ergebnis ins Fenster oder verschenken es an die Frauen bei Weight Watchers. Beim Basteln denken sie sich Sinnsprüche aus, rezitieren Hausfrauenlyrik und bekritzeln damit kleine Kärtchen, die sie ihren Präsenten beilegen. Wie damals im Kriegswinter 42/43, als ihre Urgroßmütter Bibelsprüche und Führerzitate auf weiße Deckchen stickten, sie einrahmten und frisch gebackene Witwen aus der Nachbarschaft damit beglückten. Im Herbst holen sich die alleinstehenden Damen verwaiste Katzen aus dem Tierheim. Irgendein kuschliges Fellknäuel, das man sich abends um den Hals legen kann, sollte die Zentralheizung infolge eines humanitären Embargos den Geist aufgegeben haben. Etwas lebendiges, mit dem man sich nicht zu streiten braucht, wie mit den blöden Puten bei Weight Watchers. Abends lesen sie Horoskope in Frauenzeitschriften und wundern sich über gar nichts mehr. Sie schlafen unruhig, schwitzen stark und sind morgens wie gerädert.
Jüngere Leute aller Geschlechter beginnen auf einmal dicke Bücher zu lesen. Am liebsten Geschichten über Zauberer, Ungeheuer und Pygmäen mit behaarten Füßen. Sie begeistern sich für heroische Einzelkämpfer auf apokalyptischen Schlachtfeldern, den endgültigen Sieg des Guten über das Böse. Hauptsache wunderlich, phantastisch, abseits jeder Realität, denn mit der möchten sie sich möglichst wenig auseinandersetzen. Kommt der Nonsens ein paar Jahre später abendfüllend ins Kino, verlassen sie sogar die Wohnung und halten sich mehrere Stunden im Freien auf. Sie ignorieren vorübergehend alle Gefahren des urbanen Lebens und wollen unbedingt als erste ein Ticket für die Verfilmung erwerben. Im Plüschsessel des Cineasten schmelzen sie mit einem Eimer Popcorn auf den Knien dahin und nehmen sich fest vor, die dargestellte Phantasiesprache zu erlernen, um mit anderen Betroffenen im Internet über Zauberringe lamentieren zu können. Ihre Eltern rufen sie lediglich an, wenn das Geld für den nächsten Fanartikel knapp wird. Oma Krause war auch mal in der Kreisstadt im Kino, aber das ist lange her.
Historikern kommen solche gesellschaftlichen Prozesse hinlänglich bekannt vor. Denn Weihrauchschwenker und Hellseher haben in unsicheren Zeiten seit jeher regen Zulauf. Die Menschen suchen Zuspruch und einfache Erklärungen für komplexe Sachverhalte und falten lieber die Hände, als gewohnte Mechanismen in Frage zu stellen. Sie lassen sich so lange wie möglich von den Risiken, die alternativlose Entscheidungen und die Übernahme von Verantwortung mit sich bringen, ablenken. Und wenn es denn unbedingt sein muss, steigen sie wieder in ihre Tarnanzüge und überwachen den Export unserer Normen und Werte persönlich, damit es den Völkern am Arsch der Welt einmal so gut gehen kann, wie uns. (HO)