Ukraine

Sei es die Sinnhaftigkeit der Sommerzeit, die religiöse Beschneidung bei Jungen oder der Zwang zur Schreibschrift in der Schule. Fast jeder hat zu diesen Themen eine feste Meinung und ist um Aufklärung bemüht. Mir geht es da auch nicht anders. Leider lassen sich die Unwissenden selten bekehren und gutgemeinte Hinweise enden im Streit. Zum Glück nicht zu Hause oder bei Freunden, sondern nur im Internet. Und dort ist Streit ja generell sehr verbreitet.
Ein ähnliches Problem ist die Ukraine. Nur ist hier alles noch schlimmer. Schließlich geht es um Krieg und Frieden und es sterben Menschen. Während bei Familienfeiern nach den ersten Gläsern Bier und Wein gern über die Vor- und Nachteile der Schreibschrift gestritten wird, verkrampfen sich die Finger um die Gläser mit alkoholischem Inhalt und die Stimmen werden schrill, wenn es um die Ukraine geht. Oder das Thema wird bereits im Voraus verboten.
Auch ich habe dazu umfassendes Halbwissen angesammelt und eine sehr gefestigte einseitige Meinung. Dazu musste ich nur die Bücher von Broeckers und Gabriele Krone-Schmalz lesen, unzählige Youtube Videos sehen und Russia Today und Sputnik abonnieren.
Um dieser russischen Propaganda etwas entgegen zu setzen, berichten unsere Medien konsequent aus der anderen Perspektive. Und das nicht besonders gut. Das liegt an der Ökonomisierung der Arbeitswelt und dem Konkurrenzdruck. Im Journalismus geht es auch nicht anders zu als in ihrem Betrieb, verehrter Leser. Zeit und Geld für Qualität ist ja nirgendwo vorhanden. Mitte 2014 kanalisierte sich der Protest darüber unter dem Begriff Lügenpresse. Das half tatsächlich etwas. Dann wurde der Begriff den Pegida-Demonstranten und später den Nazis in die Schuhe geschoben. Das war natürlich eine geschickte, von der Lügenpresse eingefädelte Aktion. Das haben sie gut hinbekommen.
Versagt haben die freien Medien und das öffentlich rechtliche Fernsehen dennoch. Zum Beispiel, als Anfang 2014 die ukrainische Regierung die Armee und Nationalgarde entsandte, um die rebellierenden Gebiete im Osten zu disziplinieren. Obwohl damit ein Krieg seinen Anfang nahm, wurde nichts kritisch hinterfragt. Selbst der dafür gewählte Propagandabegriff der ukrainischen Übergangsregierung, die "Antiterrormaßnahme" wurde übernommen. Die Menschen, die öffentliche Gebäude besetzten, waren Ukrainer, die damit gegen den Sturz der gewählten Regierung protestierten. Hätte man anstatt Panzer zu schicken nicht besser mit ihnen reden sollen? Hätte der Westen nicht Einfluss auf eine friedliche Lösung nehmen können, anstatt nur lapidar auf eine "Lösung des Problems im Osten", wie es der IWF getan hat, zu drängen?
Nehmen sie sich, verehrter Leser einen beliebigen Artikel der TAZ oder der Welt vor, in denen die jetzige ukrainische Regierung heftig kritisiert wird. Davon gibt es in letzter Zeit überraschend viele. In jedem dieser Artikel werden sie, auch wenn es nicht zum Thema passt, stets Sätze zur "Farce des Krim-Referendums" und zu russischen Soldaten in der Ostukraine finden. Was soll das?
Soldaten auf Urlaub in der Ostukraine hat Putin zugegeben. Ebenso, dass russische Soldaten an den Geschehnissen um die Krim beteiligt waren. Mehr konnte man ihm auch nicht beweisen. Trotzdem gibt es in diesen propagandistischen Zeiten nur wenige Zwischentöne. Ich habe noch keinen Artikel gelesen, bei dem der Autor zugibt, dass er nicht genau weiß, wie sehr sich der Russe in der Ostukraine einmischt. Im Krieg muss man sich eben für eine Seite entscheiden.
Eine andere Idee des Westens gegen Russland sind die Sanktionen. Die natürlich wehtun. Als Druckmittel funktionieren sie aber nicht sehr gut. Oder glaubt ernsthaft jemand, dass Russland die Krim wieder rausrückt? Es gibt auch nur die Krim betreffende Sanktionen. Sieht fast so aus, als ob die dort lebenden Menschen dafür bestraft werden, dass sie bei dem Referendum für den Anschluss an Russland gestimmt haben. So dürfen Krim-Bewohner keine Apple-Software mehr entwickeln (und nicht mal mehr iPhones kaufen) - Bürger Russlands schon. Das ist sicherlich ein Luxusproblem, aber als Softwareentwickler kann ich versichern, dass der Verkauf von Apps ein gutes Mittel sein kann, um an Dollar oder Euro zu kommen.
Zurzeit werden die Sanktionen gegen Russland nicht mehr mit der Krim, sondern mit der Einhaltung des Abkommens Minsk 2 begründet. Der Autor dieses Textes stimmt mit der westlichen Wertegemeinschaft damit überein, dass genau dieses Abkommen der Schlüssel zu einer Beendigung des Krieges in der Ukraine ist. Es gibt sogar eine Resolution der Uno dazu. Mir ist aber völlig schleierhaft, wie Russland für die Einhaltung von Minsk 2 sorgen soll. Ich erinnere nur daran, dass sich die ukrainische Regierung immer noch weigert, mit den Rebellen zu reden.
Schon vor dem Krieg durfte um Menschen, die auf der falschen Seite standen, nicht angemessen getrauert werden. Steinmeier wollte noch im Mai 2014 einen Kranz für die Toten in Odessa - niederlegen, weil "Jedes Menschenleben, das diesem Konflikt zum Opfer fällt, zu viel ist". Davon wurde ihm von der ukrainischen Zwischenregierung abgeraten. Es wird auch nicht vernünftig aufgeklärt. Weder die Untersuchungen zu den Morden auf dem Maidan noch zu dem Blutbad in Odessa genügen westlichen Anforderungen. Sagt der Westen.
Bleibt also festzustellen, dass sich der Staat Ukraine tagtäglich weiter von den angestrebten westlichen Werten (pluralistische Gesellschaft, Meinungsfreiheit, funktionierende Justiz) entfernt. Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht und das Land steht weiterhin kurz vor der Pleite. Der Westen kann oder will nicht großzügig helfen. Die EU gibt nicht zu, dass sie selbst fast pleite ist und nicht einmal das kleine Griechenland retten kann. Das sollte mal jemand den armen Ukrainern erklären. Nicht dass sie Hoffnung haben, dass mit der Westorientierung irgendwas besser wird. (Erp Trafassel)