Gesichtsverlust

"Und sollte ich vergessen haben, jemanden zu beschimpfen, so bitte ich um Verzeihung!" (Johannes Brahms)


Ich bin weder arrogant, noch unhöflich. Nur mein schlechtes Erinnerungs- vermögen, welches es mir oft nicht gestattet anderer Menschen Aussehen über einen längeren Zeitraum zu speichern, lässt manchmal diesen Eindruck aufkommen. Außerdem sehe ich bei Hinz und Kunz sowieso nie so genau hin. Denn was gehen mich schließlich wildfremde Leute an.
Auf einer unserer letzten Fahrradtouren sagte meine Frau zu mir: „Und, hast du ihn erkannt?“ – „Wen? Was?“ – „Na den da eben, den wir überholt haben. Das war Reinhard Höppner!“ – „DER Reinhard Höppner? Ich hab mir den gar nicht angesehen.“ So läuft das bei uns immer. „Hast du gesehen, was diese Tussi da für komische Schuhe anhatte?“ – „Meinst du etwa, ich kucke irgendwelchen Frauen auf die Schuhe? Wohl kaum. Das wäre doch voll krank!“
Vor ein paar Tagen wurde ich beim Plattenhändler meines Vertrauens von einem jungen Mann hinterm Tresen angesprochen „Na, sieht man sich mal woanders!“ – „Öh, ja…“ Wenig später fragte mich meine Frau völlig zu Recht, wer denn das gewesen sei. Und ich hatte natürlich keine Ahnung. War das der Basser von der einen Band? Oder irgendwer von auf Arbeit? Oder hat der vielleicht vor circa sechs Jahren mit X, Y, Z in einem Haus gewohnt? Ich hatte nicht mal einen begründeten Verdacht. Obwohl ich so einen ähnlichen Menschen bestimmt schon irgendwo gesehen hatte.
Am nächsten Tag traf ich ihn überraschend wieder in unserer Filiale der stillen Gastlichkeit und nur mit Hilfe meiner Kolleginnen sortierte ich den Wust an Spekulationen in meinem gestressten Hirn zu einer plausiblen Erklärung für unsere offensichtliche Bekanntschaft. Da wäre ich von alleine nie drauf gekommen. Ich kann mir Gesichter einfach nicht merken. Ich sehe mir andere Leute eben nicht so genau an. Vielleicht handelt es sich dabei um eine leichte Form des Asperger-Syndroms. Müsste man nur noch meine Inselbegabung entdecken.
Ich bin sogar einmal an meiner eigenen Mutter vorbei gerannt. Sie spazierte auf der anderen Straßenseite und rief aus relativ kurzer Entfernung mehrfach nach mir. Und ich hab nix gemerkt. Gott, was war die abends sauer auf mich! Konnte ich jedoch nix für, war echt aus versehen. Auf Rufen und Hupen reagiere ich nämlich aus Prinzip nicht. Ist mir viel zu blöd, so voyeuristisch durch die Gegend zu starren. Ich arbeite doch nicht für die elende Bild-Zeitung. Anderen Leuten in Notsituationen meine Hilfe aufzudrängeln, liegt mir ebenfalls fern. Das endet bloß in gegenseitiger Enttäuschung und unnötigen Missverständnissen. Alles schon mal erlebt. Echt.
Auch auf diversen Partys habe ich gewisse Leute immer wieder neu kennen gelernt. Teilweise nette Menschen. Mit der Zeit wurde ich denen allerdings etwas suspekt. Na ja, was soll man machen. Wenn die aber auch alle solche durchschnittlichen Gesichter haben. Kann ich wieder nix für.
Es ist mir allerdings auch schon mehrfach passiert, dass ich Menschen zu kennen glaubte, die leider gar nicht denjenigen entsprachen, für die ich sie hielt. Felsenfest war ich von ihrer Identität überzeugt. Bis mir Freunde den Irrglauben ausredeten. In solchen Situationen ist es von Vorteil, tunlichst die Klappe zu halten, um die Fehlidentifizierten nicht mit abstrusen Geschichten zu verwirren. Sie würden  natürlich an meinem bisschen Restverstand zweifeln und womöglich andere Menschen vor dem Verrückten (mir) warnen, ja mich sogar auslachen und mit dem unbekleideten Finger auf mich zeigen. Diese Arschlöcher.
Auch wenn mir jemand Geschichten von früher erzählt, in denen längst verdrängte Bekannte von damals eine tragende Rolle spielen, fehlt mir regelmäßig jegliche Erinnerung. Ich bezweifle entschieden meine Beteiligung an den betreffenden Situationen. Sonst könnte ich mich sicher entsinnen. Ich tue es nicht.
Bekannte Gesichter aus Funk und Fernsehen sind mir zum Glück auch nur sehr selten geläufig. Wenn die Frau sagt: „Der Film nachher ist doch mit dem. Der hat auch in dem letzten guten Film mitgespielt, wo der eine zu dem anderen das und das gesagt hat.“  Schön. Ich kenne meistens weder den einen noch den anderen. Wozu auch. Ist ohnehin alles unnützes Wissen. Verschwendeter Speicherplatz auf meiner überstrapazierten Festplatte.
Umgekehrt kommt es häufiger, als man gemeinhin denken mag, zu dem Fall, dass ich von Fremden erkannt werde. Doch dies hat zumeist pathologische Ursachen. Neulich sagte eine ältere Dame zu mir: „Irgendwoher kenne ich sie. Waren sie mal in Osnabrück?“ – „Nein, noch nie. Aber ich kenne einen, der war mal in Bielefeld. Vielleicht meinen sie den?“
Auch die Floskel „Ich habe sie schon mal gesehen!“ höre ich hin und wieder. Ich verweise dann in aller Regel auf meine frappierende Ähnlichkeit mit Brad Pitt oder den Umstand, dass ich mal vor ein paar Jahren mit einem Foto in der Zeitung war (ca. 1972). Damit kann ich meinem Gegenüber schnell den Wind aus den Segeln nehmen und späteren Nachstellungen vorbeugen. Zudem täusche ich gelegentlich einen falschen Namen vor – „Nennen sie mich einfach Francesco.“ Das hilft. Ohnehin würde ich betreffende Personen in der freien Wildbahn nie und nimmer wieder erkennen. Wozu auch - sie wissen schon… (HO)