Margot Honnecker und der Atomkrieg

Kurz nach dem Aufstehen war Margot immer ein wenig duselig zumute. Und dies besonders wenn ihr Gatte zu Staatsbesuchen im sozialistischen Ausland weilte. In diesen Fällen stieß sie nämlich allabendlich mit einem Glas Cherry und alten Freunden aus der Partei an. Den Einladungen in das schmucklose Haus nach Wandlitz folgten die Betreffenden allerdings weniger gern, als ihr gemeißeltes Lächeln vermuten ließ. Denn solche Abende verliefen immer gleich.
Zwar waren die Getränke erlesener, als bei Parteiveranstaltungen üblich und die endlosen Monologe der Ministerin war man von solchen durchaus auch gewohnt. Doch wenn das Glas der Dame des Hauses zum wiederholten Male zur Neige gegangen war, verebbte die fröhliche Atmosphäre und die Gesprächsthemen wandelten sich unerfreulicher Weise in weniger schöne Richtungen.
War die illustre Runde soeben noch mit einer Debatte über den Siegeszug des Sozialismus in Lateinamerika beschäftigt, so schwenkte die First Lady langsam um. Sie wurde zunächst melancholisch, sinnierte über alte Zeiten, ihre Jugend in Halle, die Jahre im BDM und das eine in der KPD. Wenn sie dann über die Einheitspartei und den Aufbau der DDR ins Schwärmen geriet, war es nicht mehr weit zum finalen Ausbruch. Denn plötzlich wurde sie weinerlich. Ihre Stimme geriet ins Stocken. Tränen glitzerten in den Augenwinkeln. Alle Anwesenden kannten den Grund. Es handelte sich um ihre größte Angst, die ihr regelrecht leibliche Schmerzen zufügte.
Sie quälte die entsetzliche Vorstellung, als einzige Parteigenossin von Rang einen Atomkrieg überlebt zu haben. Zu diesem Zweck hatte sich die Staatsführung einen gigantischen Bunker ins Erdreich betonieren lassen, der nicht hübsch, aber durchaus zweckmäßig war und das Überleben einer auserwählten Minderheit von Genossen sichern sollte. Regelmäßig saß Margot mit den besten alten Männern des Landes zur Probe in diesem Verließ und simulierte den Ernstfall. Sie lag stumm auf der Pritsche, stierte an die Betondecke und hörte das monotone Brummen des Notstromaggregates, während ihr eloquenter Gatte mürbe am roten Telefon kauerte und auf den erlösenden Anruf aus Moskau wartete. Doch vergeblich. Zu den halbjährlichen Übungen der alten Garde bekam man schon lange keine eilige Leitung in den Kreml mehr. Denn dort hatte man ganz andere Sorgen, als der gebrochenen Stimme eines verwirrten greisen Mann zu lauschen und ihm mitzuteilen, das sich der atomare Erstschlag der NATO mal wieder verzögert hätte. So war es immer. Auf den Westen war einfach kein Verlass. Auch eine Form der Kriegsführung, dachte die einsame Margot und wartete auf das Ende der Übung. Bloß raus hier, flüsterte sie heimlich vor sich hin. Bis es endlich gestattet war, den tristen Bunker zu verlassen.
Und so plagte die angetrunkene Margot auch am heutigen Abend die Vorstellung, nur von debilen Greisen und Egon Krenz umgeben, einer trostlosen Zukunft anheim zu fallen. Denn in einer apokalyptischen Welt konnte man das Endziel, den Kommunismus, getrost vergessen. Und Egon Krenz war ihr schon lange ein Dorn im Auge. Dieser berufsjugendliche Parteisoldat, Ziehsohn ihres Gatten, mit seinem grenzdebilen Augenaufschlag Karl Dall nicht unähnlich. Welch grauenhafte Vorstellung, umgeben von diesen Männern auf das Versagen der Energieversorgung zu warten. Auf den unausweichlichen Tod der senilen Insassen dieses Staatsgefängnisses. Lange würde es nicht dauern, bis der erste Widerstandskämpfer das zeitliche segnete. In solchen Momenten wollte sie am liebsten ins Ausland reisen. Nach Südamerika zum Beispiel. Dort hatten bekanntlich schon viele deutsche Flüchtlinge ein beschauliches Auskommen gefunden.
Den Gästen an solchen Abenden wurde zunehmend mulmig. Wussten sie doch, dass all ihre Kommentare, jedes unbedachte Räuspern von den zugeschalteten Mitarbeitern der Staatssicherheit protokoliert werden würde. Atomare Republikflucht auf höchster Ebene war schließlich keine Kleinigkeit. Sollte man ihr davon abraten? Warum nicht. Denn keiner ihrer Gesprächspartner hätte es je bis in den gepanzerten Keller geschafft. Dafür waren sie viel zu unbedeutend für den Staatsapparat. Sie alle wären im Falle einer Kernexplosion an Ort und Stelle vaporisiert worden. Es konnte ihnen also egal sein, ob die gastfreundliche Dame an der Erdoberfläche verpuffte oder in ihrem Bunker vergeblich den atomaren Winter zu überstehen versuchte. Hauptsache sie käme nicht ungeschoren davon. Man empfahl ihr Zuversicht und bereitete den baldigen Rückzug vor. Sollte die beschwipste Monarchin in Ruhe ihre Zukunft betrauern. In den nächsten Tagen würde sie sich wieder dem Fortschreiten der Volksbildung widmen, als hätte es diesen depressiven Anfall nie gegeben. Alle paar Wochen das gleiche Spiel. Man kannte das schließlich zur Genüge.
Nach einigen tröstenden Worten, Verweisen auf die Friedenspolitik der Bruderländer und die baldige Rückkehr des Gatten aus Schwarzafrika, verabschiedeten sich die Gäste bis auf weiteres. Zurück blieb eine aufgelöste Altkommunistin, die sich von ihrer Haushaltshilfe die Schlaftabletten reichen ließ, um sich anschließend in einen einsamen Schlaf zu weinen. Während die Angestellte das Haus in Ordnung brachte, lag Margot in traumloser, wenig erholsamer Umnachtung. War ihr Ehemann zwar schon lange für keinen erquickender Zeitvertreib mehr zu gebrauchen, so bewahrte sie seine Anwesenheit doch vor solch fadenscheinig geselligen, wie offensichtlich deprimierenden Abenden. Insofern konnte er ruhig aus dem Dschungel zurückkehren, um sie mit den üblichen Geschenken zu bedenken. Afrikanische Volkskunst aus Affenbrotbäumen handgeschnitzt – monströs erigierte Penisse und schlanke nackte Negerinnen mit riesigen Brüsten. Wie liebte er diese frivolen Präsente. Er war in seinen späten Jahren ein richtiges Ferkel geworden. Wenn das Volk davon wüsste. Schöne Völkerverständigung, so etwas. (HO)